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Archive for Oktober 2012

Hier lebt die Stadt: Der Friedhof von Rathenow

Die bunte Herbstfärbung von Efeu und Weinlaub, Ahorn und Birken zaubert eine farbige Vergänglichkeitsidylle über die zahllosen Gräber hinter die Bögen alten Backsteinmauerwerks. Der Alte Friedhof von Rathenow, der zur Evangelischen Kirche gehört, dient mit seiner eindrucksvoll restaurierten, historischen Torhalle seit 1740 als Begräbnisstätte für die Toten der traditionsreichen, ehemaligen Garnisons- und Industriestadt. Der eingetragene Verein Memento kümmert sich um dieses einzigartige Stück Stadtgeschichte: Hier liegen die Zeugen der großen Zeit Rathenows begraben. Heinrich von Rosenberg fand hier seine ewige Ruhe, der General des berühmten Husarenregiments, dessen Richtlinien im Umgang mit Mlitärpferden bis in das 20. Jahrhundert die Kavallerieausbildung prägten und noch beim Streit um das Wunderpferd Totilas zitiert wurden. Namensgeber des Rathenower Husarenregiments und berühmter Chef aus frederizianischer Zeit war übrigens der General von Zieten, der als „Zieten aus dem Busch“ zu sprichwörtlicher Berühmtheit gelangte und auch von Fontane in einem Gedicht mit  einem schönen Stück gereimter Erinnerungskultur bedacht wurde. Auch der Arzt Dr. Rubaum findet sich hier unter einer Grabplatte, Bismarck empfahl ihn seiner Frau als Arzt im Falle von Krankheiten seiner Kinder, die auf dem etwas entfernten Gut in Schönhausen aufwuchsen. Selbstverständlich findet sich an der friedhofsmauer auch das städtische Ehrengrab Johann Heinrich August Dunckers, der in Rathenow den Grundstein für die optische Industrie legte mit seiner bahnbrechenden Entwicklung der Vielschleifmaschine. Optische Linsen wurden durch den evangelischen Geistlichen Duncker zum bezahlbaren Massenprodukt. Eine besonders eindrucksvolle Wirkung geht von der Friedhofskapelle aus rotem Backstein aus. Ihr Portal öffnet sich in die lichte Landschaft und setzt dem Tod ein wirkungsvolles Plädoyer für die Schönheit der Welt entgegen: Sonne, Landschaft, Natur und Architektur in einer besonders harmonischen Verbindung. Eine Grabgestaltung am Kirchenaufgang zitiert mit einem Architrav auf einer beigen Säulenreihe arkadische Motive. Aber: Et in Arcadia Ego, auch im paradiesischen Arkadien ist der Tod nicht fern. Gegen die beeindruckende Erinnerungskultur der alten Gräber fällt das moderne Urnenfeld ab. Wir Heutigen interessieren uns vor allem für unsere Gegenwart und vergessen gern und schnell, woher wir kommen. Vom Friedhof aus ist die spätgotische Kirche mit romanischen Fundamenten zu sehen, die der Gottesmutter und dem Heiligen Andreas geweiht ist. Andreas deshalb, weil wohl die nahe Havel mit ihren vielen Fischern den Apostel Andreas als Schutzpatron der Fischer (neben Petrus) nahelegt. Ein umlaufender Backsteinfries aus aneindergereihten Andreaskreuzen bezeugt -Zufall oder gewollt- den Andreas auch im Ornament. Nur wenig blieb von der einstigen Mittelalter- und Barock-Pracht in der Altstadt, rund um den Kirchhof sind die erhaltenen Fachwerk- und Mansardenhäuser deshalb besonders kostbar.

Im Zentrum von Rathenow, der „Stadt der Optik“, geht es inzwischen vor allem um die Optik im Sinne eines attraktiven Stadtbildes. Denn die Deindustrialisierung im Osten hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Als Produktionsstandort in größerem Umfang ist Rathenow nicht mehr von Bedeutung, seit 2006 kultiviert neben einem gut aufgebauten Museum ein gepflegter Optikpark in der Nachnutzung einer Landesgartenschau den Mythos „Optik“ in Rathenow. Die Gefahr besteht vielleicht, dass über die offizielle Pflege einer wehmütigen Erinnerungskultur die Besinnung auf einen zukunftsweisenden Richtungswechsel in den Hintergrund gerät. Vorsichtige, kreative Ansätze für offensive Mittelstandswerbung und Existenzgründer-Zentren könnten den Gründerzeit-Geist beleben, der einst den Aufstieg der Stadt beförderte. Vielleicht wäre mancher Förder-Euro als Darlehen für wagemutige Selbstständige gut angelegt, wenn es um die lebenswerte, ökonomisch nachhaltige Zukunft dieser schönen Stadt geht. Die Bundesgartenschau 2015 könnte ein zusätzlicher Impuls für neue Denkansätze sein.

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In Bahnitz gehen Strauße spazieren

Das Künstlerdorf Bahnitz ist ursprünglich kein Künstlerdorf. Die Kunst liegt dem Fischerort nicht in den Genen. Barsch, Zander, Aal und Weißfische waren die wirtschaftliche Grundlage der kleinen Siedlung an der Havel. Wer heute nach Bahnitz kommt, will vielleicht einen Kunstkurs besuchen oder als Radwanderer nur übernachten. Und dann vielleicht hier und da die Ateliers entdecken, die heute Bahnitz zum sogenannten „Künstlerdorf“ machen. Christa Biderbick zum Beispiel: die gebürtige Westfälin aus Balve hat in ihrem großzügigen Atelier mit neutralem Nordlicht eine zweite Heimat gefunden. Und vielleicht ihre Wichtigste. In Bahnitz sammelt sich die Summe ihres künstlerischen Lebens. Plastiken aus Polyester frappieren durch einen verstörenden Realismus. Nicht einen sozialistischen Realismus, der mit gerichteten Botschaften einem Klassenauftrag folgt oder nur eine ideologische Richtung illustriert. Die charmante, schmächtige Siebzigerin verstört mit ihren skulpturalen Inszenierungen. Die verschlüsselten Botschaften der gestalteten Körperlichkeit läßt sie lieber unkommentiert und steigert dadurch noch ihr provokantes Potential. Drei Chinesinnen präsentieren als gesichtslose Messehostessen auf einer sich drehenden Scheibe aufgeklappte Laptops, eine schlichtes, altes Paar markiert ohne künstliche Pose eine endgültige Lebensphase, die Darstellung einer japanischen Frau überhöht ästhetisch die Katastrophe von Fukushima. Die Kunst von Christa Biederbick nimmt Stellung, ohne sich festzulegen. den letzten Schritt in der Ausdeutung der künstlerischen Aussage muss immer der Betrachter selbst leisten. Wenn etwa, herausgelöst aus einem historischen Foto, ein amerikanischer Flieger ein Kind schützend im Arm hält, dann prallen emotionale Welten in einer Art aufeinander, dass eine Zusammenführung zu einer gültig resümierenden Bilddeutung kaum möglich scheint. Geborgenheit und Gefahr, Gewalt und Zärtlichkeit, Schutz und absolute Bedürftigkeit: die Künstlerin treibt den selbstverständlich gewordenen Wahnsinn der Welt in ihren Werken auf die Spitze und läßt ihn wirkungsvoll in einer Szene, einer Figur kummulieren. Ihr Ehemann, Karlheinz Biederbick, schrieb als Mitglied der Berliner Künstlergruppe ZEBRA in den Siebzigern ein kleines Kapitel bundesrepublikanischer Kunstgeschichte mit. Seine Polyesterharz-Plastiken entwickeln auf den ersten Blick heroische Assoziationen, auf den zweiten Blick entblößen sie eine irritierende Verletztheit. Seine Kreaturen bergen in sich einen chiffriert dargestellten Widerspruch, virtuos auf eine beängstigende Spitze getrieben. Der Fallschirmspringer zum Beispiel: Hinter ihm der rettende Stoffschirm, er selbst aber in einer Verfassung, die jede Rettung fraglich erscheinen  läßt. Die geordnete Physiognomie ist zerstört, die Aussicht, dass nach dem fatalen Absturz eine weiche Landung folgte, ein Irrtum. Aktuell schafft Karlheinz Biederbick in seinem Atelier kleine Reliefs, deren Bildgegenstand er historischen Fotos der Jahre zwischen 1933 und 1945 entnommen hat. Hitler in Nürnberg, Nazis in Prag, die Konferenz von Jalta: bekannte Fotochiffren der Zeitgeschichte entwickeln als körperhafte Modellierungen eine ungewöhnliche Präsenz. Wir sehen Geschichte neu und beleben ein Interesse, dass durch die viel zu oft gesehenen Fotos eigentlich erloschen war. Plötzlich entsteht Imagination dort, wo schon alles in der geistigen Ablage längst vorgeordnet war.

Harmonie und Frieden dagegen im Kunsthof Bahnitz. Hier lebt Melodie Ebner-Joerges eine impressionistische Idylle in der Nachfolge Monets, allerdings mit den durch die Brandenburger Umgebung erzwungenen Reduzierungen. Der Garten beeindruckt durch Poesie und eine absichtsvolle Natürlichkeit. Keine deutsche Vorgartenidylle, sondern eher ein französisch-legerer Umgang mit Wachsen und Vergehen dominiert hier und läßt Erinnerungen wach werden an den letzten Urlaub in der Normandie mit einem Besuch des Monet-Hauses in Giverny. Prof. Bernward Joerges, der Ehemann, kultiviert das schön restaurierte Anwesen im Milower Land als Begegnungsstätte für romantische Kunst- und Naturliebhaber und Erholungssuchende. Individuelle gestaltete Zimmer laden zum Verweilen, das Frühstück am Morgen und das Abendessen wird in einer urigen Gaststube serviert.

Gegenüber befindet sich ein multifunktionales Haus, das als Pension und Fremdenverkehrszentrale fungiert. Hier werden zur BUGA 2015 in der Havelregion Besucher erwartet, die sich in großen Zimmern mit Küchenzeile selbst verköstigen wollen. Das Havelufer lädt zum Abendspaziergang. Der Brandenburger CDU-Spitzenpolitiker Dieter Dombrowski hat im Zusammenwirken mit örtlichen Freiwilligen dafür gesorgt, dass Landesmittel und Fördergelder so investiert wurden, dass mit Bahnitz ein Ort wiederbelebt und ausgebaut wurde, der einen sofort mit seiner anmutigen Idylle gefangen nimmt. Am Anlieger liegt eine kleine Barkasse mit Dach vor Anker, die dann und wann offizielle Besucher spazieren fährt. Auch Repräsentation und gesellschaftliches Leben kommen hier nicht zu kurz. Auf einer nahen Wiese gehen Strauße spazieren und suchen Gänse nach Futter. Kein Blick in eine agrarische Zukunft, eher eine typische Anekdote in globalisierten Zeiten.

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Auf Schloss Ribbeck im Havelland ist alles Birne

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Wie ein strahlender, goldgelber Barren liegt das renovierte Schloss in der Landschaft. Die Farbe ist ein wenig kräftig ausgefallen, die Forschung belegt ein gedeckteres, zarteres Gelb. Aber Denkmalschutz heute scheidet gern das Echte vom neu Renovierten auch durch die fremdelnde Farbe. Das Schloss erscheint dem anfahrenden Besucher plötzlich und eigentümlich unerwartet direkt. Kein Park vermittelt zwischen Schloss,  Siedlung und Naturlandschaft. „Eine Adelsforscherin hat mir mal dargelegt, dass die meisten Schlossherren sich im 18. und 19. Jahrhundert mit der Anlage eines Schlossparks ruinierten. Die Ribbecks waren schlauer“, erzählt der angesehene Pianist Friedrich Höricke, der für den Landkreis den Geschäftsführerposten auf einem der wohl berühmtesten Architekturdenkmäler des Havellandes versieht. Und das ist  eine weitere, kulturelle Pointe der langen Geschichte der von Ribbecks im Havelland und ihres heute wieder schmucken, ehemaligen Besitzes: auf Ribbeck regiert heute ein spätromantischer Pianist. Der stattliche Künstler, der nicht nur musikalisch, sondern auch von der Ausstrahlung mit seinem langen Haar und klassischer, gepflegter Garderobe nah am 19. Jahrhundert verortet wirkt, fühlt sich wohl im Schloss. Gegenüber hat sich vor einigen Jahren der Zweitgeborene des Letzten Herrn auf Ribbeck ein Haus gebaut. Dieses heutige Wohnhaus trägt ein „Doppeldach“oder Krüppelwalmdach mit der Anordnung der Gauben und Fenster und erinnert so an das Schloss, wie es zu Fontanes Lebzeiten existierte.

Friedrich von Ribbeck genießt dort seinen Lebensabend, die Erinnerung an die Kinderjahre auf dem Gut sind dem im Kriegsjahr 1939 Geborenen gegenwärtig. Jahrgang 1939, ist er der Enkel des 1945 im KZ Sachsenhausen als „Feind des Volkes“ umgebrachten Rittmeisters Hans von Ribbeck. Dessen ältester Sohn lebt in Südamerika, er wäre heute der rechtmäßige Schlossherr. Eine Restitution des Besitzes kam nicht in Frage, da  Deutschland die Bodenreform, eine einmalige Rechtsbeugung in der sowjetisch besetzten Zone, nach der Wende aus vermeintlicher Opportunität nicht zurücknehmen wollte.

Im Schloss überrascht eine lichte Frische, behutsam wurden die Räume ausgestaltet und mit betont schlichter Einrichtung versehen. Hier und da, etwa mit einer Standuhr aus dem Jahr 1822 oder einer Intarsienkommode, hat Friedrich Höricke etwas vom Interieur der Zeit wieder in die Ausstattung aufgenommen. In manchen Räumen stören verchromte Kronleuchter und erinnern an das Innere des Palastes der Republik in der „Hauptstadt der DDR“, von den Berlinern wurde der sozialistische Prachtbau bekanntermaßen auch „Erichs Lampenladen“ genannt.

Im Treppenhaus findet sich ein Fresko aus sozialistischer Zeit, eine gewagte Umdeutung des Ribbeck-Gedichts. Ein fetter Gutsherr verweigert den armen, hungrigen Bauernkindern die Birnen vom Baum. Doch alle Welt weiss ja, wie es wirklich war in der literarischen Gestalt des Gedichts, und so ist die Birne der Star des Schlosses. Aus Marzipan, als Beilage beim Mittagstisch im Restaurant, als Bilderbuch oder Anstecker oder in flüssiger, geistiger Form, abgefüllt in versiegelten 0,2l-Flaschen. Friedrich Höricke organisiert im Schloss Konzerte und Ausstellungen und macht fast vergessen, dass es eine ungebrochene Ribbeck-Geschichte im gleichnamigen Nauener Ortsteil nicht gibt. Wie zur Beschwörung der fortwirkenden Historie wird in der Kirche beim Schloss ein Birnbaum-Stumpf aufbewahrt, eine literarische Reliquie, ein Stück poetisch aufgeladenes Holz, wie es in Deutschland wohl kein zweites gibt.

Mit einem feinen Williams-Nachhall des Birnenbrandes im Gaumen verläßt man die legendäre Stätte. Und weiss doch: die Ribbecksche Birne war wohl eine Römische Schmalzbirne. Aber die wäre mangels ätherischer Duftaromen für einen fruchtigen Brand nicht geeignet. Bei der Bundesgartenschau 2015 in der Havelregion, soviel steht fest, wir das Thema „Birne“ eine nicht unwichtige Rolle spielen. Schloss Ribbeck steht schon jetzt als bedeutender Referenzstandort fest.

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Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,

Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: »Junge, wiste ’ne Beer?«
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.«

So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. ’s war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.«
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen »Jesus meine Zuversicht«,
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
»He is dod nu. Wer giwt uns nu ’ne Beer?«

So klagten die Kinder. Das war nicht recht –
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was damals er tat,
Als um eine Birn‘ ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.

Und die Jahre gingen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet’s wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung‘ übern Kirchhof her,
So flüstert’s im Baume: »Wiste ’ne Beer?«
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew‘ di ’ne Birn.«

So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

Theodor Fontane

Fliegen, Pils und Ostalgie: Luftfahrtgeschichte im Havelland

Lady Agnes, eine alte Interflug-Maschine

Iris Hoffmann, eine kräftige, resolut wirkende Endvierzigerin mit frecher Kurzhaarfrisur und immer einem frischen Lächeln im fröhlichen Gesicht, ist Bürgermeisterin von Gollenberg. Die Gemeinde im Ländchen Rhinow, seit 20 Jahren als Amt Rhinow eine selbstständige Verwaltungseinheit mit dem tüchtigen Amtsdirektor Aasmann an der Spitze, zählt gerade mal 420 Einwohner, wenn nicht schon wieder der eine oder andere um einer Stelle oder wenigstens besserer Aussichten willen weggezogen ist. Doch nicht die Größe oder wirtschaftliche Bedeutung macht Gollenberg interessant, vielmehr gehört zur Gemeinde auch der Flecken Stölln, früher mehr oder weniger gleich bedeutend mit dem Gutshof der Familie von der Hagen. Betagte Nachfahren, die sich noch gut an ihre Kindheit zwischen Luch und Landsitz erinnern können, sind inzwischen wieder ortsansässig und halten zum Beispiel über die Pflege der kleinen Gutskapelle die Erinnerung an eine herrschaftliche Vergangenheit wach. Das alte Gutshaus exisitiert nur noch in Rudimenten. Die große Freitreppe an der Hausfront wurde in der sowjetisch geprägten Nachkriegszeit entfernt, der Mittelteil des Gebäudes dem Erdboden gleich gemacht. Zurück blieben zwei Gebäudestümpfe, und nur eine gedachte Linie zwischen den Souterrain-Fenstern ergibt im Kopf des aufmerksamen Betrachters die alte Architekturform des Havelländischen Herrenhauses. Mit der BUGA 2015 soll der alte Gutspark wieder in Ansätzen neu entstehen, um so weit wie möglich ein Stück Siedlungs- und Regionalgeschichte lebendig werden zu lassen.

Doch das Gut der von der Hagens ist es nicht, was Stölln den Eintrag in die Geschichtsbücher gesichert hat und weiter sichern wird. Otto Lilienthal, der weltberühmte Flugpionier, veranstaltete hier seine waghalsigen Experimente und zog sich dabei am 9. August 1897 bei einem Absturz tödliche Verletzungen zu, an deren Folgen er einen Tag später in der Berliner Charité verstarb. Ursache war auf der Jagd nach immer größeren Flugdistanzen eine „thermische Ablösung“, die zum ersten Trudelunfall der Luftfahrtgeschichte führte. Seine experimentellen Vorarbeiten führten aber zur bis heute gültigen physikalischen Beschreibung der Tragfläche. Die Produktion des sogenannten Normalsegelapparates in seiner Maschinenfabrik in Berlin war die erste Serienfertigung eines Flugzeugs. Lilienthals Flugprinzip war das des heutigen Hängegleiters und wurde von den Brüdern Wright zum Prinzip des Flugzeugs weiterentwickelt. In Stölln findet sich deshalb ein Lilienthal-Zentrum, das, untergebracht in der ehemaligen Gutsbrennerei, die Geschichte der Fliegerei anhand der Biografie Otto Lilienthals nachzeichnet.

Bürgermeisterin iris Hoffmann ist dankbar für die geschenkte Lilienthal-Historie. Schließlich war der aus kleinen Verhältnissen stammende Lilienthal nicht nur der legendäre Flugpionier, sondern auch ein begnadeter Erfinder von Spielzeug bis zu Baumaterial und hat als Unternehmer im Umgang mit Mitarbeitern sozialreformerische Akzente gesetzt, durch moderne Gewinnbeteiligung und den Bau von Arbeiterwohnungen.

Iris Hoffmann siedelte erst nach der Wende nach Stölln, die Gegend kannte sie durch verwandtschaftliche Beziehungen allerdings schon aus DDR-Zeiten. Die FDP-Politikerin weiss, dass Stölln im Amt Rhinow ein fein herausgeputztes Örtchen ist, umgeben von blühenden Landschaften. In ihrer Heimat Duisburg würden die Menschen wohl neidvoll auf die hübschen Häuschen und die gepflegten Anlagen blicken, wenn sie nach Stölln kämen. Denn inzwischen hat sich das frühere West-Ost-Gefälle umgedreht. Wer heute von Brandenburg ins Ruhrgebiet reist, erkennt schnell, dass der Strukturwandel im ehemaligen Kohle- und Stahlrevier längst nicht bewältigt ist. Migrationsprobleme und eine geschundene Landschaft, fehlende wirtschaftliche Perspektiven und leere öffentliche Kassen sorgen im Pott für dramatische Verhältnisse. Anders als im Havelland geht es um das Schicksal von Millionen Menschen, rund um Stölln dagegen leben nur 14 Einwohner pro Quadratkilometer. Und die haben es geschafft, dass hier und da ein Lichtblick die Zukunft erhellt. So kommen etwa 30.000 Besucher jährlich, um ein Kapitel Luftfahrtgeschichte anschaulich illustriert zu bekommen. Und um Lady Agnes zu sehen, ein nach der Ehefrau Otto Lilienthals benanntes Illjuschin-Verkehrsflugzeug der alten DDR-Interflug-Linie, das im Wendejahr 1989 dorthin geflogen und bis heute geparkt wurde. Als so bescheidene wie ein -drucksvolle Touristenattraktion auf den kargen Trockenwiesen des historischen Fluggeländes, wo bis heute Segelflieger starten und landen.

Bürgermeisterin Iris Hoffmann verdient sich ein kleines Einkommen mit Führungen durch die Maschine und Erläuterungen zu Interflug und Illjuschin. In einer angejahrten Baracke wird Kaffee und Kuchen serviert, manche Souvenirs mit DDR-Symbolik sorgen für einen  Hauch Ostalgie. So wohl sich die Bürgermeisterin aus Duisburg auch in ihrer neuen, brandenburgischen Heimat fühlt, einmal im Monat steigt eine warme Wehmut hoch. Und zwar dann, wenn der Getränkewagen um die Ecke biegt und zwei Kästen Königs Pilsener anliefert. Die erhält der bettlägrige Vater von Iris Hoffmann bis heute als Deputat der Brauerei in Duisburg-Beek, wo er fast während seines gesamten Erwerbslebens als Braumeister tätig war.

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