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Hier lebt die Stadt: Der Friedhof von Rathenow

Die bunte Herbstfärbung von Efeu und Weinlaub, Ahorn und Birken zaubert eine farbige Vergänglichkeitsidylle über die zahllosen Gräber hinter die Bögen alten Backsteinmauerwerks. Der Alte Friedhof von Rathenow, der zur Evangelischen Kirche gehört, dient mit seiner eindrucksvoll restaurierten, historischen Torhalle seit 1740 als Begräbnisstätte für die Toten der traditionsreichen, ehemaligen Garnisons- und Industriestadt. Der eingetragene Verein Memento kümmert sich um dieses einzigartige Stück Stadtgeschichte: Hier liegen die Zeugen der großen Zeit Rathenows begraben. Heinrich von Rosenberg fand hier seine ewige Ruhe, der General des berühmten Husarenregiments, dessen Richtlinien im Umgang mit Mlitärpferden bis in das 20. Jahrhundert die Kavallerieausbildung prägten und noch beim Streit um das Wunderpferd Totilas zitiert wurden. Namensgeber des Rathenower Husarenregiments und berühmter Chef aus frederizianischer Zeit war übrigens der General von Zieten, der als „Zieten aus dem Busch“ zu sprichwörtlicher Berühmtheit gelangte und auch von Fontane in einem Gedicht mit  einem schönen Stück gereimter Erinnerungskultur bedacht wurde. Auch der Arzt Dr. Rubaum findet sich hier unter einer Grabplatte, Bismarck empfahl ihn seiner Frau als Arzt im Falle von Krankheiten seiner Kinder, die auf dem etwas entfernten Gut in Schönhausen aufwuchsen. Selbstverständlich findet sich an der friedhofsmauer auch das städtische Ehrengrab Johann Heinrich August Dunckers, der in Rathenow den Grundstein für die optische Industrie legte mit seiner bahnbrechenden Entwicklung der Vielschleifmaschine. Optische Linsen wurden durch den evangelischen Geistlichen Duncker zum bezahlbaren Massenprodukt. Eine besonders eindrucksvolle Wirkung geht von der Friedhofskapelle aus rotem Backstein aus. Ihr Portal öffnet sich in die lichte Landschaft und setzt dem Tod ein wirkungsvolles Plädoyer für die Schönheit der Welt entgegen: Sonne, Landschaft, Natur und Architektur in einer besonders harmonischen Verbindung. Eine Grabgestaltung am Kirchenaufgang zitiert mit einem Architrav auf einer beigen Säulenreihe arkadische Motive. Aber: Et in Arcadia Ego, auch im paradiesischen Arkadien ist der Tod nicht fern. Gegen die beeindruckende Erinnerungskultur der alten Gräber fällt das moderne Urnenfeld ab. Wir Heutigen interessieren uns vor allem für unsere Gegenwart und vergessen gern und schnell, woher wir kommen. Vom Friedhof aus ist die spätgotische Kirche mit romanischen Fundamenten zu sehen, die der Gottesmutter und dem Heiligen Andreas geweiht ist. Andreas deshalb, weil wohl die nahe Havel mit ihren vielen Fischern den Apostel Andreas als Schutzpatron der Fischer (neben Petrus) nahelegt. Ein umlaufender Backsteinfries aus aneindergereihten Andreaskreuzen bezeugt -Zufall oder gewollt- den Andreas auch im Ornament. Nur wenig blieb von der einstigen Mittelalter- und Barock-Pracht in der Altstadt, rund um den Kirchhof sind die erhaltenen Fachwerk- und Mansardenhäuser deshalb besonders kostbar.

Im Zentrum von Rathenow, der „Stadt der Optik“, geht es inzwischen vor allem um die Optik im Sinne eines attraktiven Stadtbildes. Denn die Deindustrialisierung im Osten hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Als Produktionsstandort in größerem Umfang ist Rathenow nicht mehr von Bedeutung, seit 2006 kultiviert neben einem gut aufgebauten Museum ein gepflegter Optikpark in der Nachnutzung einer Landesgartenschau den Mythos „Optik“ in Rathenow. Die Gefahr besteht vielleicht, dass über die offizielle Pflege einer wehmütigen Erinnerungskultur die Besinnung auf einen zukunftsweisenden Richtungswechsel in den Hintergrund gerät. Vorsichtige, kreative Ansätze für offensive Mittelstandswerbung und Existenzgründer-Zentren könnten den Gründerzeit-Geist beleben, der einst den Aufstieg der Stadt beförderte. Vielleicht wäre mancher Förder-Euro als Darlehen für wagemutige Selbstständige gut angelegt, wenn es um die lebenswerte, ökonomisch nachhaltige Zukunft dieser schönen Stadt geht. Die Bundesgartenschau 2015 könnte ein zusätzlicher Impuls für neue Denkansätze sein.

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