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Fliegen, Pils und Ostalgie: Luftfahrtgeschichte im Havelland

Lady Agnes, eine alte Interflug-Maschine

Iris Hoffmann, eine kräftige, resolut wirkende Endvierzigerin mit frecher Kurzhaarfrisur und immer einem frischen Lächeln im fröhlichen Gesicht, ist Bürgermeisterin von Gollenberg. Die Gemeinde im Ländchen Rhinow, seit 20 Jahren als Amt Rhinow eine selbstständige Verwaltungseinheit mit dem tüchtigen Amtsdirektor Aasmann an der Spitze, zählt gerade mal 420 Einwohner, wenn nicht schon wieder der eine oder andere um einer Stelle oder wenigstens besserer Aussichten willen weggezogen ist. Doch nicht die Größe oder wirtschaftliche Bedeutung macht Gollenberg interessant, vielmehr gehört zur Gemeinde auch der Flecken Stölln, früher mehr oder weniger gleich bedeutend mit dem Gutshof der Familie von der Hagen. Betagte Nachfahren, die sich noch gut an ihre Kindheit zwischen Luch und Landsitz erinnern können, sind inzwischen wieder ortsansässig und halten zum Beispiel über die Pflege der kleinen Gutskapelle die Erinnerung an eine herrschaftliche Vergangenheit wach. Das alte Gutshaus exisitiert nur noch in Rudimenten. Die große Freitreppe an der Hausfront wurde in der sowjetisch geprägten Nachkriegszeit entfernt, der Mittelteil des Gebäudes dem Erdboden gleich gemacht. Zurück blieben zwei Gebäudestümpfe, und nur eine gedachte Linie zwischen den Souterrain-Fenstern ergibt im Kopf des aufmerksamen Betrachters die alte Architekturform des Havelländischen Herrenhauses. Mit der BUGA 2015 soll der alte Gutspark wieder in Ansätzen neu entstehen, um so weit wie möglich ein Stück Siedlungs- und Regionalgeschichte lebendig werden zu lassen.

Doch das Gut der von der Hagens ist es nicht, was Stölln den Eintrag in die Geschichtsbücher gesichert hat und weiter sichern wird. Otto Lilienthal, der weltberühmte Flugpionier, veranstaltete hier seine waghalsigen Experimente und zog sich dabei am 9. August 1897 bei einem Absturz tödliche Verletzungen zu, an deren Folgen er einen Tag später in der Berliner Charité verstarb. Ursache war auf der Jagd nach immer größeren Flugdistanzen eine „thermische Ablösung“, die zum ersten Trudelunfall der Luftfahrtgeschichte führte. Seine experimentellen Vorarbeiten führten aber zur bis heute gültigen physikalischen Beschreibung der Tragfläche. Die Produktion des sogenannten Normalsegelapparates in seiner Maschinenfabrik in Berlin war die erste Serienfertigung eines Flugzeugs. Lilienthals Flugprinzip war das des heutigen Hängegleiters und wurde von den Brüdern Wright zum Prinzip des Flugzeugs weiterentwickelt. In Stölln findet sich deshalb ein Lilienthal-Zentrum, das, untergebracht in der ehemaligen Gutsbrennerei, die Geschichte der Fliegerei anhand der Biografie Otto Lilienthals nachzeichnet.

Bürgermeisterin iris Hoffmann ist dankbar für die geschenkte Lilienthal-Historie. Schließlich war der aus kleinen Verhältnissen stammende Lilienthal nicht nur der legendäre Flugpionier, sondern auch ein begnadeter Erfinder von Spielzeug bis zu Baumaterial und hat als Unternehmer im Umgang mit Mitarbeitern sozialreformerische Akzente gesetzt, durch moderne Gewinnbeteiligung und den Bau von Arbeiterwohnungen.

Iris Hoffmann siedelte erst nach der Wende nach Stölln, die Gegend kannte sie durch verwandtschaftliche Beziehungen allerdings schon aus DDR-Zeiten. Die FDP-Politikerin weiss, dass Stölln im Amt Rhinow ein fein herausgeputztes Örtchen ist, umgeben von blühenden Landschaften. In ihrer Heimat Duisburg würden die Menschen wohl neidvoll auf die hübschen Häuschen und die gepflegten Anlagen blicken, wenn sie nach Stölln kämen. Denn inzwischen hat sich das frühere West-Ost-Gefälle umgedreht. Wer heute von Brandenburg ins Ruhrgebiet reist, erkennt schnell, dass der Strukturwandel im ehemaligen Kohle- und Stahlrevier längst nicht bewältigt ist. Migrationsprobleme und eine geschundene Landschaft, fehlende wirtschaftliche Perspektiven und leere öffentliche Kassen sorgen im Pott für dramatische Verhältnisse. Anders als im Havelland geht es um das Schicksal von Millionen Menschen, rund um Stölln dagegen leben nur 14 Einwohner pro Quadratkilometer. Und die haben es geschafft, dass hier und da ein Lichtblick die Zukunft erhellt. So kommen etwa 30.000 Besucher jährlich, um ein Kapitel Luftfahrtgeschichte anschaulich illustriert zu bekommen. Und um Lady Agnes zu sehen, ein nach der Ehefrau Otto Lilienthals benanntes Illjuschin-Verkehrsflugzeug der alten DDR-Interflug-Linie, das im Wendejahr 1989 dorthin geflogen und bis heute geparkt wurde. Als so bescheidene wie ein -drucksvolle Touristenattraktion auf den kargen Trockenwiesen des historischen Fluggeländes, wo bis heute Segelflieger starten und landen.

Bürgermeisterin Iris Hoffmann verdient sich ein kleines Einkommen mit Führungen durch die Maschine und Erläuterungen zu Interflug und Illjuschin. In einer angejahrten Baracke wird Kaffee und Kuchen serviert, manche Souvenirs mit DDR-Symbolik sorgen für einen  Hauch Ostalgie. So wohl sich die Bürgermeisterin aus Duisburg auch in ihrer neuen, brandenburgischen Heimat fühlt, einmal im Monat steigt eine warme Wehmut hoch. Und zwar dann, wenn der Getränkewagen um die Ecke biegt und zwei Kästen Königs Pilsener anliefert. Die erhält der bettlägrige Vater von Iris Hoffmann bis heute als Deputat der Brauerei in Duisburg-Beek, wo er fast während seines gesamten Erwerbslebens als Braumeister tätig war.

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